Brückenbauer zwischen Kuba und der Schweiz

Wie das Sozialprojekt Camaquito Jugendliche auf der Karibikinsel unterstützt

Text von Thomas Milz, aus der Neuen Zürcher Zeitung

Ein Kind mit einer Gehbehinderung geht mit Hilfe einer Frau eine Treppe runter
Elizabeth Barrera Bravo mit ihrer Mutter Marina Bravo Vaillant. © Thomas Milz

Es ist ein besonderer Tag für Elizabeth Barrera Bravo. Die Zehnjährige sei nervös aufgewacht, erzählt Marina Bravo Vaillant, ihre Mutter, und jetzt sitzt Elizabeth mit ihren frisch lackierten Fingernägeln im Wohnzimmer des kleinen Hauses am Stadtrand von Santiago de Cuba und wartet, dass endlich Nachmittag wird. Dann steigt im Kulturhaus eine Tanzveranstaltung von Sin Barreras (Ohne Grenzen). Das Projekt hat sich das Ziel gesetzt, die sozialen und kulturellen Barrieren für Jugendliche mit Behinderungen zu beseitigen. 

Tanzen sei toll, sagt Elizabeth schüchtern. Sie öffne sich langsam, sagt die Mutter – dank der Interaktion mit den anderen Jugendlichen. Ob sie aber jemals selbst wird tanzen können, ist offen. In der Schwangerschaft gab es Probleme, Elizabeth wurde in der 32. Woche per Kaiserschnitt geholt. Die Befürchtungen der Ärzte bestätigten sich im Laufe der folgenden Wochen: Elizabeth hat eine Cerebralparese, eine Lähmung des Gehirns. Das bedeutet, dass sie für jeden Entwicklungsschritt viel länger braucht. Sie ist immer spät dran.

Für die Mutter Marina bedeutete die Diagnose, dass sich ihr Leben fortan 24 Stunden am Tag um ihre Tochter drehte. Eine geregelte Arbeit ist unmöglich, die Grossmutter und andere Familienmitglieder helfen, wo sie können. Zweimal in der Woche kommt eine Lehrerin zu ihnen, an den restlichen Tagen der Woche bringt die Mutter Elizabeth in eine nahe Poliklinik zur Physiotherapie: «Sie muss in Bewegung bleiben, sonst verliert sie noch mehr ihrer Mobilität.» Elizabeth die schmale Treppe zum ersten Stock hochzutragen, wo Bade- und Schlafzimmer sind, werde immer schwieriger. Sie sei ihr fast schon zu schwer.

Ein Rollstuhl öffnet Welten

Immerhin, auf der Treppe zur Strasse kann sich das Mädchen am Geländer herunterhangeln. Und dank dem Rollstuhl, den das Hilfsprojekt Camaquito gespendet hat, kann Marina ihre Tochter nun mit zum Einkaufen nehmen oder zu den Veranstaltungen von Sin Barreras fahren. Den Rollstuhl habe man in Mexiko gekauft, wie so viele Dinge, die Kinder und Jugendliche mit Behinderungen brauchen, die es aber in Kuba nicht gebe, erzählt Mark Kuster.

Der gebürtige Winterthurer hat Camaquito als gemeinnützige Hilfsorganisation für Kinder und Jugendliche vor 22 Jahren ins Leben gerufen. Seitdem baut er dringend benötigte Brücken zwischen Kuba und der Schweiz. Zwar bietet Kubas Gesundheitssystem allen Bürgern kostenlose Behandlung an. Doch es mangelt chronisch an Medikamenten, und an die Vitaminpräparate, die Elizabeth braucht, kommt man nur durch Spenden aus dem Ausland.

Seit Sin Barreras 2013 gegründet wurde, habe man stets mit den wenigen eigenen Mitteln versuchen müssen, die Aktivitäten zu stemmen, erzählt Alenelis Garcia, die Projektleiterin. Doch man sei rasch an die eigenen Grenzen gestossen. Seitdem Camaquito 2019 als finanzieller Unterstützer einstieg, sei das Projekt aufgeblüht. 40 Kinder mit unterschiedlichsten Behinderungen machen in dem Projekt mit, das erst vor kurzem einen nationalen Preis gewonnen hat. Als vor einem Jahr im kubanischen Fernsehen über das Projekt berichtet wurde, habe sie gedacht, wie schön es doch wäre, wenn ihre Tochter da mitmachen könnte, sagt Mutter Marina. Nun sei diese wie ausgewechselt.

Camaquito engagiert sich in Kuba in den Bereichen Bildung, Kultur, Sport, Gesundheit und Umwelt. Gefördert werden unter anderem Trinkwasserprojekte, eine Entbindungsklinik und ein Fussballprojekt in der Provinz Camagüey sowie Tanz- und Musikprojekte. In der Altstadt von Havanna wird die Spezialschule «Vietnam» für 59 Kinder mit geistiger Entwicklungsverzögerung und Verhaltensstörungen im Alter von 7 bis 11 Jahren unterstützt. Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) der Schweizerischen Eidgenossenschaft hat seit 2010 bereits mehrere Projekte von Camaquito finanziell unterstützt.

Jugndliche sitzen in einem Klassenzimmer
Spezialschule Vietnam in der Altstadt von Havanna. © Thomas Milz

Ein Rechtspolitiker wird Entwicklungshelfer in Kuba

Die Organisation hat neben der Schweiz auch ehrenamtliche Helfer in Deutschland, Österreich und Spanien. «Bei uns machen die Leute nicht nur aus rein sozialer Überzeugung mit, sondern auch, weil sie den Spirit eines «social entrepreneur» spüren und sagen: Camaquito ist ein gutes Projekt, und Kuba ist ein cooles Land. Das möchte ich verbinden», meint Kuster. Fortschritte der Jugendlichen und der Projekte zu sehen, solle den Spendern Spass machen und ein gutes Gefühl vermitteln. Es gehe nicht um Mitleid.

Camaquito ist eine der wenigen Nichtregierungsorganisationen, die in Kuba arbeiten. Denn unabhängiges Engagement ist auf der Insel unmöglich. «Alles muss stets mit der Regierung abgesprochen werden, wenn man langfristig und nachhaltig hier etwas machen will», sagt Kuster, der früher Präsident der Jungen SVP der Schweiz war. Das schrecke Aktivisten davon ab, sich hier zu engagieren. Doch Kuster hat die Herausforderung, darunter die oft überbordende Bürokratie, angenommen und ist nun einer von wenigen Ausländern, die hier Sozialprojekte anschieben.

Das Modell habe auch Vorteile: Da alle Projekte von der Regierung mitgetragen werden, garantiert diese gleichzeitig die Nachhaltigkeit. Eine öffentliche Schule, die man heute renoviere, werde auch in 5 oder 10 Jahren noch eine öffentliche Schule sein und nicht wie in anderen Ländern plötzlich privatisiert, verkauft und zu anderen Zwecken genutzt. So sei es trotz dem nicht immer einfachen Umfeld gelungen, tolle Projekte umzusetzen, resümiert Kuster.

Wirtschaftliche Förderung ergänzt Sozialprojekte

Neu hinzu kommen nun Projekte im Bereich Jungunternehmer und Jungunternehmerinnen. Möglich wurde dies durch die Reformen, mit denen die Regierung die Privatwirtschaft anschieben will. Da gebe es viel zu tun. Kuba sei nach Jahrzehnten der Planwirtschaft «eine wirtschaftliche Jungfrau», es fehle Know-how fürs Unternehmertum, sagt Kuster. «Innovation ist da, aber unternehmerisches Denken ist bei null.» Man müsse Hoffnungen managen, Erwartungen bremsen und neue Unternehmen langfristig begleiten, um ihnen zum Beispiel zu vermitteln, wie wichtig es ist, Rücklagen zu bilden. Die Deza unterstützt das Entrepreneurship-Förderprogramm zukünftig mit 28 200 Dollar.

Mark Kuster mit einem Kind im Rollstuhl und drei Erwachsenen
Elizabeth Barrera Bravo mit Mark Kuster. Seit über zwanzig Jahren ist seine Organisation Camaquito in Kuba aktiv und unterstützt behinderte Kinder, Entbindungskliniken und Sonderschulen. © Thomas Milz

Für die Bereitstellung von Finanzierungen durch Camaquito müssen geförderte Unternehmen soziale Gegenleistungen erbringen. Schreinereien, die Werkzeuge gespendet bekommen, müssen dafür zum Beispiel Spielsachen für soziale Einrichtungen herstellen. Wirtschaftliche Förderung sei für ihn die beste Entwicklungshilfe, sagt Kuster, und eine gute Ergänzung zu den Sozialprojekten. Zwar sei Kuba derzeit wirtschaftlich sehr schlecht dran. Doch die Insel könne langfristig zum Vorbild für die Karibik und Lateinamerika werden, glaubt er. So ist Kuba im Vergleich mit dem Rest der Region ein sicheres Land ohne Gewaltprobleme. 

Zudem sei Kuba ein solidarisch aufgestellter Staat, der allen Bürgern eine Grundversorgung garantiere, erklärt Kuster, der mit seiner Frau und den beiden Kindern in Santiago lebt. Hier gebe es ein Potenzial an Jungunternehmern, und Camaquito könne als Brückenbauer zwischen dem Staat und dem Privatsektor fungieren. «Ein Kuba ohne Armut wird es nicht geben. Aber man kann versuchen, die sozialen Gegensätze möglichst gering zu halten und sozial abzufedern», sagt Kuster. Es gelte, das Positive zu bewahren.

Dass man in Europa mit Kuba und seiner autoritären Regierung oft hart ins Gericht geht, ist Kuster bewusst. «Wir Schweizer und Deutschen reagieren nun einmal sehr sensibel bei dem Thema freie Meinungsäusserung. Aber da jetzt nur in die Opposition zur Regierung zu gehen, bringt Kuba nicht weiter. Das Land braucht den Dialog zwischen Regierung und Bevölkerung.»

Für Elizabeth ist mittlerweile die grosse Stunde gekommen. Im Kulturzentrum schminken und kleiden sich die Kinder und Jugendlichen, jeder Besucher wird innig zur Begrüssung umarmt. Dann wird gemeinsam getanzt, gesungen, man lauscht Gedichten und vergnügt sich beim Karaoke. Mittendrin Elizabeth in ihrem Rollstuhl, geschoben von ihrer Mutter. Beide strahlen.

«Ich frage mich immer, was die Kinder und Jugendlichen brauchen, um glücklich zu sein», sagt Kuster. «Und was brauchen die Eltern eines sehr stark behinderten Kindes? Wenn sie sehen, dass ihr Kind glücklich ist, ist das schon einmal ein wichtiger Schritt.»

Mehrere Personen mit Körben tanzen um ein Kind im Rollstuhl
Elizabeth Barrera Bravo nimmt an den Aktivitäten von Sin Barreras in Santiago de Cuba teil. © Thomas Milz
Der Originalartikel ist hier zu finden.
 

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